L. Tischendorf
Der Herbst 2009 führte fast 4000 Teilnehmer aus ganz Europa und der Welt – weniger aus Deutschland – in das nachsaisonale Monaco, wo uns erwartenden: Strahlender Sonnenschein, 30 Grad Wärme, ein sehr teures Pflaster (das nicht durch Gewinne in der bekannten Spielbank ausgeglichen werden konnte) – vor allem aber ein mustergültiger Kongress der großen europäischen Implantologengesellschaft EAO mit der Thematik „Richtlinien für den Praktiker“ unter der Co-Präsidentschaft von Carlo Maiorana (Mailand) und Pascal Valentini (Paris).
Posterdemonstrationen und Preisverleihungen
Vieles an dem Kongress in dem weitläufigen Grimaldiforum war herausragend und damit möchte ich meine Wiedergabe beginnen: Erstmals erlebte ich eine Kongresseröffnung durch einen regierenden Landesfürsten: Seine Hoheit Fürst Albert II. eröffnete in einer für mich auch rhetorisch beeindruckenden Videobotschaft die Jahrestagung mit Hinweisen auf seine eigene Förderung der Umweltforschung, die bei der Bebauungs- und Verkehrsdichte des sonst mustergültigen Kleinststaates auch dringend geboten ist. Auch kündigte er das Ende des monegassischen Steueroasentums an.
Beispielgebend war für mich der Umgang mit fast 500 Vortragsanmeldungen für den Kongress: Eine 38-köpfige Abstractkommission selektierte in fast unvorstellbarer Vorarbeit: 425 Beiträge wurden in Themenblöcken als Poster demonstriert (ausschließliche Diskussion am Poster selbst!). Die Posterherstellung wurde über die EAO vermittelt! Auch mein kleiner Beitrag zur tomographiegestützten Implantatinsertion fand Berücksichtigung.
Als Kurzvorträge wurden die interessantesten 21 Mitteilungen geboten und weitere acht bzw. zehn Beiträge zur Klinik bzw. Präklinik stellten sich dem Wettbewerb um die Tagungspreise. Dieses Vorgehen entspricht eigenen Intentionen aus der langjährigen Mitarbeit in der Jury der DGI. Es ist für die Zuhörer spannend und für die Wettbewerber gerecht, ist aber an sehr aussagekräftige Abstracts und eine zeitaufwendige Arbeit seitens der Jury im Vorfeld gebunden.
Preisgekrönt wurden eine Arbeitsgruppe um Mario Roccuzzo aus Turin, Bern und Neapel mit einer verblindeten dreiarmigen 10-Jahresstudie zu Straumann-Implantaten im parodontal kompromittierten Gebiss an 112 Patienten. Sie belegte den Einfluss des Schweregrades der Parodontalerkrankung und der regelmäßigen Parodontaltherapie auf den Implantationserfolg. Preisgekrönt auf dem Gebiet der Grundlagenforschung wurde eine Arbeitsgruppe um Maria Retzepi (London, Großbritannien) mit einer Tierstudie zur Wirkung des unkontrollierten und insulingesteuerten Diabetes mellitus über WNT-Protein-Signale auf die Stammzellproliferation und Osteoblastenfunktion bei der Knochenheilung bei Guided bone Regenerationsprozessen. Die gezeigte Downregulation der Signalwirkung erklärt den genetisch determinierten Zusammenhang zwischen unkontrolliertem Diabetes und unvollständiger Osteogenese im Frühstadium der Knochenbildung nach GBR. Die Abstracts aller über 500 Beiträge – auch der Hauptvorträge – finden wir im Septemberheft 2009 des Clinical Oral Implants Research. Auch das erfüllt eine meiner Wunschvorstellungen.
Zehn Jahre Erfahrung
Ich werde die Plenarsitzungen besprechen, auch wenn die Vorträge im Abstractband nachlesbar sind. Der erste Komplex befasste sich mit 10-jährigen Erfahrungen.
Prof. Dr. Dr. Friedrich Neukam (Erlangen, Deutschland) zeigte in einer gut fundierten Übersicht, dass die anfangs umstrittene Sinusbodenelevation sowohl mit lateralem als auch mit crestalem Zugang heute belegt durch Studien mit hoher Evidenz zu einem Verfahren mit sehr hoher Erfolgsrate und großer Vorhersagbarkeit in der Implantologie geworden ist. Knochenersatzmaterialien haben dabei gegenüber dem autologen Knochen an Einsatzbreite gewonnen. Es gibt Hinweise, dass bereits das Offenhalten des Hohlraumes zwischen Knochen und Kieferhöhlenschleimhaut ausreichend für ein Knochenwachstum ist.
Prof. Dr. Tiziano Testori (Mailand, Italien) – ein Pionier für die Sofortbelastung von Implantaten – zeigte an eigenen langjährigen Studien dass diese durch verbesserte Implantatoberflächen häufiger und nicht nur im unbezahnten Unterkiefer möglich geworden ist, aber keinesfalls bei allen Patientenfällen, sondern nur nach einer auf Erfahrung beruhenden sorgfältigen Selektion.
Prof. Dr. Fouad Khoury (Olsberg, Deutschland) zeigte eindrucksvoll, wie eigene Modifikationen der intraoralen Knochentransplantationstechnik bevorzugt aus dem retromolaren Gebiet zur weiteren Perfektion an über 1000 Verpflanzungen geführt haben und Membranen sowie Knochenersatzmaterialien in seiner Hand überflüssig machen. Zu erwähnen sind dabei die Knochenschalentechnik oder der tunnelartige Zugang.
Prof. Dr. Marco Rosa (Trento, Italien) brachte als Kieferorthopäde ganz andere Gedanken für die Behandlung nicht angelegter lateraler Schneidezähne ins Spiel. Nach seinen auf vielen bedeutenden Kongressen vorgestellten Erfahrungen kommt es auch bei erwachsenen Patienten mitunter nach einem implantologischen Lückenschluss zu ästhetisch beeinträchtigenden Lageveränderungen von Alveolafortsatz und Implantat. Er favorisiert daher unterschiedliche Formen des kieferorthopädischen Lückenschlusses in dieser Region, um nicht immer ästhetisch vorhersagbare Ergebnisse nach Implantatversorgung zu vermeiden. Dieser für Implantologen provokante, aber überdenkenswerte Vortrag sollte im Original verfolgt werden, zumal aus Zeitgründen eine Diskussion entfiel.
Komplikationen managen
Die zweite Plenarsitzung befasste sich mit der Behandlung von Komplikationen. Prof. Dr. Zvi Artzi (Tel Aviv, Israel) besprach eine Fülle von ihnen in Zusammenhang mit Sinusbodenelevationen. Gründe hierfür sind unterschiedliche Knochenwanddicken und Variationen von Knochensepten sowohl in bukko-lingualer als auch in anterior-posteriorer Richtung, die Modifikationen des operativen Standardvorgehens erfordern.
Häufigste, aber in der Regel beherrschbare Komplikation ist die Perforation der Schneiderschen Membran. Auch an Gefäßvariationen wurde erinnert. Prof. Dr. Lars Rasmusson (Göteborg, Schweden) besprach Probleme nach umfangreichen Rekonstruktionen unter Einsatz extraoraler Spenderregionen. Prof. Dr. Søren Schou (Aarhus, Dänemark) diskutierte Aspekte der Periimplantitis, die sich von denjenigen der Periodontitis in vielem unterscheidet und ein Vorgehen schwieriger gestaltet und bei der es noch immer an ausreichenden Daten zur Therapie mangelt. Dr. Franck Renouard (Paris, Frankreich) diskutierte prothetische Komplikationen auf der Grundlage biomechanischer Erwägungen. Das Problem konzentriert sich bei nur wenigen Patienten, was ein heuristisches Herangehen nach dem Trial-and-error-Prinzip bei der Therapie mit Abweichungen von der ursprünglichen Planung erfordert. Die Flexibilität der Implantatverankerung wäre langzeitig bedeutsamer als deren Rigidität, was ein Argument für kürzere, nicht mehr bikortikal verankerte und möglicherweise auch gegen konische Implantate sei.
Die Plenarsitzung zum Weichgewebsmanagment habe ich zugunsten der Wettbewerbsvorträge versäumt.
Klinische Anwendungen neuer Technologien
Spannend waren am letzten Tag Beiträge zur klinischen Anwendung neuer Technologien.
Dr. Myron Nevins (Pennsylvania, North Carloina, USA) beschäftigt sich seit langem mit Signalmolekülen und speziell den rekombinanten Wachstumsfaktoren (rh PDGF) sowohl bei parodontalen Defekten als auch im Rahmen der Implantologie für die Versorgung begrenzter Kieferdefekte und für die Socket preservation.
Klare Aussagen vermittelte Prof. Dr. Christoph Hämmerle (Zürich, Schweiz), der Präsident der EAO, in einer Standortbestimmung zu Wachstumsfaktoren und deren Trägermaterialien, die dazu beitragen könnten, Versorgungen bei Knochendefekten einfacher und vorhersagbarer zu gestalten. Wachstums- und Differenzierungsfaktoren können Knochenwachstum in der Frühphase induzieren, was sich langzeitig allerdings ausgleicht. Zukünftig könnte ihr Einsatz in großvolumige Defekte erfolgen, für die heute noch autologe Blocktransplantate erforderlich sind. Die Bone morphogenetic proteins sind derzeit die potentesten, allerdings extrem teuren Kandidaten für diesen Einsatz. Die Suche nach geeigneten Trägermaterialien ist noch nicht abgeschlossen. Polyäthylenglykole würden erprobt.
Prof. Dr. Minoru Ueda (Tokio, Japan) besprach die (in Japan staatlich kontrollierte!) stammzellgestützte Gewebezüchtung. Er hat ausgehend von körpereigenen Stammzellen spektakulär sowohl injizierbare Knochen- als auch Fibroblastensubstrate entwickelt und erfolgreich eingesetzt. Perspektivisch seien mit der Gewebezüchtung auch komplexe Strukturen wie Zähne inklusive Parodontalmembran (Bioteeth) entwickelbar.
Prof. Dr. Dr. Hendrik Terheyden (Kassel, Deutschland) systematisierte als ein rhetorisch und inhaltlichen Höhepunkt des Kongresses nach einer Einführung zur Bedeutung von Angiogenese und Stammzelldifferenzierung in einem synoptischen Vortrag unterschiedliche Abläufe für Gewebezüchtungen: rekombinante und native Wachstumsfaktoren, Gentherapie, kleine Moleküle, extrazelluläre Matrixmoleküle, Zellpräparationen am Patienten und Zellkulturtechniken. Derzeit sind rekombinante Differenzierungs- (rhBMPs) und Wachstumsfaktoren (rhPDGF) bereits im klinischen Einsatz. Neue Probleme könnte sich aus Antigen-Antikörper-Reaktionen und Problemen der Blutversorgung für einige Verfahren ergeben. Zukünftig wird eine Konzentration auf Wege über die preisgünstigen Small moleculs (Statine) und die Gentherapie neben den Wachstumsfaktoren erwartet. In der Diskussion stellte Franck Renouard die provokante Frage, ob wirklich für vorhersagbare Implantatversorgungen derartig aufwendige Methoden und derart viel Knochen benötigt werden. Zweifellos müssen Kosten und Aufwand dem eventuellen Zeit- und Sicherheitsgewinn gegenübergestellt werden.
Parodontologie oder Implantologie: Wo ist die Grenze?
Die abschließende Plenarsitzung diskutierte Fälle, in denen angesichts einer erheblichen parodontalen Schädigung die Parodontalbehandlung – d. h. Zahnerhaltung oder Zahnentfernung – gegen Implantatversorgung abgewogen wurden. Einer der spannenden Fälle wurde über einen langen Zeitraum (17 Jahre) analysiert mit immer wieder neuen Aspekten am Patienten, aber auch stetigen Wandel von Wissen und Anschauungen des Behandlers. Die Diskussion leitet Prof. Dr. Mariano Sanz als Periodontologe aus Madrid. Die Fälle stellte vor Dr. Giano Ricci (Florenz, Italien), einer der Altmeister der italienischen Periodontologie. Diskutanten waren Prof. Dr. Anton Sculean (Bern, Schweiz) und Prof. Dr. Stefan Renvert (Kristianstad, Schweden) als Periodontologen und Prof. Dr. Phillipe Khayat (Paris, Frankreich) und Prof. Dr. Joan Pi Urgell (Barcelona, Spanien) als Implantologen. Die Analyse des Falles zeigte, wie durch wohl abgewogene unterschiedliche parodontale Maßnahmen der absehbare Zahnverlust lange herausgezögert werden konnte und danach Rehabilitationen mit Implantaten noch immer machbar waren. Zweifellos war dies eine Demonstration von hohem periodontologischem Können und Einsatz. Inwieweit von derartigen Einzelverlaufsfällen auf das Gros der parodontal geschädigten Patienten geschlossen werden kann, bleibt naturgemäß offen.
Interdisziplinäre Masterklassen und Industriesymposien
Vielleicht sollten die Hauptvorträge wie bei der DGI als Videoaufzeichnungen interessierten Teilnehmern angeboten werden. Noch eine Randbemerkung: Die Hauptreferenten stützten sich bei ihren Literaturrecherchen fast ausschließlich auf Publikationen aus dem „COIR“ (Clinical Oral Implants Research), dem Organ der EAO. Wenn dies eine Weisung der EAO war, dann halte ich auch das für einen begrüßenswerten Trend. Ich glaube aber eher, dass die aktuellen Themen der Implantologie fundiert heute am ehesten in dieser Zeitschrift abgebildet werden.
Neben den Plenarsitzungen gab es Masterklassen zum Zusammenhang zwischen Implantologie und Medizin (Themen: Diabetes mellitus, Immundefizite, Schmerzkontrolle), Statements zur Sofortimplantation, Vorkongresskurse zum vertikalen Knochenaufbau, zur Behandlung von Extraktions- und periimplantären Defekten, zur Sinusbodenelevation, zu den Alternativen implantatgetragene Brücke oder abnehmbarer Zahnersatz bei Unbezahnten, neun Industriesymposien und eine großen Industrieausstellung. Auf dieser war für mich auffällig, dass Anbieter von 3D-Röntgengeräten viel weniger zahlreich als in Deutschland vertreten waren. Außerdem fiel mir auf, dass den Silbersponsoren zugehörige industriemäßige Imperium der Paolo-Malo-Implantations-Kliniken in weltweit nunmehr 14 Ländern mit 25 Kliniken darunter Russland, USA, China, Brasilien, allein in Lissabon mit 400 Mitarbeitern, vertreten ist, was dort zur Insertion von 3000 sofortbelasteten All-on-four-Implantaten und 30 000 Kronen jährlich führt.
Von den Industriesymposien möchte ich das der Firma Geistlich Biomaterials und das von Nobel Biocare erwähnen. In ersterem war es wie stets ein rhetorischer (und inhaltlicher) Genuss, Prof. Dr. Jan Lindhe (Göteborg, Schweden) zu wissenschaftlichen Grundlagen für die Behandlung der Extraktionsalveolen zu hören, selbst wenn für mich das Prinzip der Socket preservation durch BIOOSS-Kollagen-Einlagerung noch immer nicht überzeugend ist. Als rhetorische (und inhaltliche) Neuentdeckung dieses Jahres möchte ich aber PD Dr. Frank Schwarz (Düsseldorf, Deutschland) nennen, der zu „seinem“ Thema Periimplantitis referierte.
Bei Nobel Biocare lief eine Roundtablediskussion wie eine Fernsehtalkshow unter der charmanten und doch sachkundigen Regie von Dr. Franck Renouard aus Paris ab. Nachdem anfangs angegriffene Produkte des Konzerns kleinlich verteidigt wurden, gewann die Diskussion an Format durch fundierte Beiträge von Prof. Dr. Bertil Friberg aus der Brånemark- Klinik in Göteborg, dessen Erfahrungen an einem riesigen operierten und ausgewerteten Krankengut bei einer wohltuend konservativen implantologischen Grundeinstellung das wissenschaftlichen Image von Nobel Biocare deutlich verbessern halfen.
Fazit
Ich besuche viele Kongresse, aber die Tagung der EAO in Monaco fand ich beispielgebend. Es war ein exakt geplanter Kongress mit einer Fülle hörenswerter Grundsatzvorträge und einer riesigen Menge geschickt präsentierter freier Beiträge und das in einem Umfeld, das zwar teuer, aber höchst attraktiv war. Als kleines Highlight konnte unmittelbar zum Kongress der Supplementband der COIR mit den Ergebnissen der 2. Konsensuskonferenz der EAO vom Februar 2009 ausgehändigt werden. Die Teilnehmer der Tagung in Monaco müssen der EAO mit ihrem Präsidenten Prof. Dr. Christoph Hämmerle dankbar sein. In seiner wohlformulierten Einladung hatte er in keinem Punkt zuviel versprochen. Meine einmal geäußerten Befürchtungen, die Implantologie entwickele sich jetzt im Sinne einer „l` implantologie pour l´ implantologie“ und wir würden uns jetzt nur noch mit implantologischen Langzeitproblemen wie der Materialermüdung oder der Periimplantitis beschäftigen müssen, wurde durch diesen Kongress glänzend widerlegt.
Zweifellos wird zum nächsten EAO-Kongress vom 6. bis 9. Oktober 2010 in Glasgow anstelle von strahlendem Sonnenschein britischer Nebel dominieren, aber: Wenn das wissenschaftliche Programm auch nur annähend das Niveau des diesjährigen Kongresses erreicht, dann darf ich Englisch verstehenden implantologisch Interessierten ein Kommen empfehlen. Prospektive Teilnehmer mögen dabei überdenken, ob nicht die Vorteile einer Mitgliedschaft in der EAO bei nicht allzu hohem Beitrag (225 Euro) und dafür deutlich (um 23 %) reduzierten Kongressgebühren und einem kostenfreien Onlinezugang zu dem hochkarätigen Clinical Oral Implants Research (Bezugspreis sonst 757 Euro) für einen Antrag auf Mitgliedschaft sprechen. Und: Vielleicht eröffnet 2010 die englische Queen den Kongress?
L. Tischendorf, Halle/Saale