Die Anatomie des Canalis mandibule

Neue Erkenntnisse oder alles wie gehabt?

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Schlüsselwörter: Canalis mandibulae N. alveolaris inferior Unterkieferimplantate Verletzungen im Unterkiefer

Einleitung

Obwohl das Einsetzen von zahnärztlichen Implantaten meist ein chirurgisch wenig komplexes Verfahren darstellt, werden intraoperative und postoperative Komplikationen nicht selten berichtet. Mehr oder weniger häufig handelt es sich hierbei um Verletzungen des Gefäß-Nerven-Bündels im Unterkiefer. Der Canalis mandibulae beherbergt sowohl die A. und V. alveolaris inferior als auch den N. alveolaris inferior.

Er beginnt am Foramen mandibulare und endet am Foramen mentale. Die posteriore Region des Unterkiefers ist aufgrund des Vorhandenseins des Canalis mandibulae unter anderem  für Implantat-insertionen, Weisheitszahnostetomien oder endodontische Behandlungen vulnerabel. Eine erfolgreiche zahnärztliche enossale Implantation in diesem Bereich hängt somit neben einem ausreichenden Alveolarknochenvolumen hauptsächlich vom Schutz des Kanals und seines Inhalts ab. Daher ist hier eine genaue anatomische Kenntnis unvermeidlich, um den Kanal während invasiver chirurgischer Eingriffe vor iatrogenen Schäden zu schützen.

Auch chirurgische Verfahren in der interforaminalen Region des Unterkiefers können zu einer unbeabsichtigten Verletzung der peripheren Nerven in der Nähe führen und aufgrund neurosensorischer Veränderungen eine erhebliche Morbidität für den Patienten darstellen, während die Verletzung der lokalen Gefäßstrukturen zu Ödemen des Mundbodens oder sogar Obstruktion der Atemwege führen kann. So kann der N. alveolaris inferior vor dem Austritt als N. mentalis eine intraossäre Schleife bilden (Prävalenz 22–88 %), die sich über das Foramen mentale nach anterior (durchschnittlich 0,25 bis 19 mm) erstreckt. Die genaue Identifizierung dieser anatomischen Variante ist entscheidend, um iatrogene Komplikationen bei der Implantatinsertion zu vermeiden. Radiologisch kann die anteriore Schleife des Mandibularkanals anhand ihres Durchmessers (> 3 mm) vom Canalis incisivus (< 3 mm) unterschieden werden.

Eine kürzlich durchgeführte systematische Literaturübersicht über neurosensorische Störungen nach Insertion von Unterkieferimplantaten zeigte, dass die Inzidenz von sensorischen Störungen zwischen 6,5 % und 40 % lag und Implantate, die im Frontzahnbereich platziert wurden, sogar ein höheres Risiko für Nervenschäden als im posterioren Unterkieferbereich aufwiesen.

Da im Rahmen der präimplantologischen Diagnostik immer mehr 3D-Röntgenaufnahmen angefertigt werden, liegen tatsächlich immer mehr, qualitativ hochwertige Daten zur Kieferanatomie und ihrer Normabweichungen vor. Ziel dieser Studienzusammenfassung war daher eine Evaluation neuer, für die zahnärztliche Chirurgie relevanter Erkenntnisse bezüglich der Prävalenz und Morphologie alternativer Formen des Canalis mandibulae im Unterkiefer.

Aktuelle Studien

Saeed TA, Alansy AS, Abdu ZA, Almaqtari O, Yu Z
Bezahnter versus zahnloser Unterkiefer: DVT-basierte morphometrische Beurteilung des Unterkieferkanals und des Alveolarknochens
Dentulous versus edentulous mandibles: CBCT-based morphometric assessment of mandibular canal and alveolar bone

J Clin Exp Dent 2022;14: e986–93

Art der Studie: radiologische retrospektive Querschnittstudie

Ziel der Studie: Beschreibung der Posi- tion und des Verlaufs des Mandibularkanals und der Dimensionen des Alveolarknochens bei auf einer Seite bezahnten und kontralateral unbezahnten Patienten via DVT. Weitere untersuchte Einflussfaktoren: Alter und Geschlecht

Materialien und Methoden: 112 DVT-Datensätze von entsprechenden Patienten wurden auf die folgenden Parameter hin untersucht: Länge, Durchmesser, Lokalisation und Verzweigungen des Mandibularkanals; Höhe und Breite des Alveolarknochens.

Ergebnisse und Schlussfolgerung: Die durchschnittliche Länge des Mandibularkanals lag bei 6,3 cm, mit einem vertikalen Durchmesser von 2,9 und einem horizontalen Duchmesser von 2,2 mm. Der Mandibularkanal war am häufigsten bukkal im Bereich des ersten Molarens und lingual im Bereich des zweiten und dritten Molarens zu finden. In 10 % der Fälle lag ein unilateral bifider Nervkanal vor. Bis auf die Tatsache, dass der Durchmesser des Kanals im bezahnten Unterkiefer größer war, konnten keine Unterschiede zwischen den beiden Gruppen gefunden werden. Im Gegensatz hierzu hatte die Zahnlosigkeit, aber auch das weibliche Geschlecht einen negativen Einfluss auf Höhe und Durchmesser des Alveolarknochens.

Bewertung: Es handelt sich um eine interessante Querschnittsstudie an einer chinesischen Population, die vor allem zu der Schlussfolgerung kommt, dass der Durchmesser des Mandibularkanals mit Zahnverlust abnimmt. Nachteilig und der retrospektiven Natur der Studie geschuldet ist der Fakt, dass die medizinische und zahnärztliche Anamnese der Patienten nicht in die Analyse einfließen konnte.


Ketal NM, Ansari ST, Malik R, Lanjekar AB, Jirafe SJ, Gajghate AS
Analyse der anterioren Schleife des Mandibularkanals und ihre Auswirkungen auf die Implantattherapie
Assessment of anterior loop of mandibular canal and its implication in implant therapy

J Indian Soc Periodontol 2022; 26 (4): 342–347

Art der Studie: radiologische retrospektive Querschnittstudie

Ziel der Studie: Identifizierung einer anterioren Schleife des Mandibularkanals in Abhängigkeit des Geschlechts, Alters und der vorliegenden Bezahnung

Materialien und Methoden: An 125 DVT-Datensätzen wurden jeweils der Abstand zwischen dem radiologisch prominentesten Teil des Mandibularkanals und dem Alveolarkamm ausgemessen.

Ergebnisse und Schlussfolgerung: Eine anteriore Schleife des Canalis mandibulae konnte in 67 % der Fälle mit der höchsten Prävalenz in der vierten Lebensdekade und gehäuft bei zahnlosen Patienten gemessen werden.

Bewertung: Die Studie hat Mängel in der schriftlichen Darstellung und ist in Teilen konfus zusammengestellt. Trotzdem gibt sie anhand wenig invasiver radiologischer Untersuchungen wertvolle Hinweise auf chirurgisch relevante Varianten des anterioren Canalis mandibulae mit direkten klinischen Implikationen.


Soman C, Wahass T, Alahmari H, Alamri N, Albiebi A, Alhabashy M, Talha A, Alqhtani N
Prävalenz und Charakterisierung von bifiden Mandibularkanälen via DVT: eine retrospektive Querschnittsstudie aus Saudi-Arabien
Prevalence and Characterization of bifid mandibular Canal Using Cone Beam Computed Tomography: A Retrospective Cross-Sectional Study in Saudi Arabia

Clin Cosmet Investig Dent 2022; 14: 297–306

Art der Studie: radiologische retrospektive Querschnittstudie

Ziel der Studie: Bestimmung von Prävalenz und morphologischer Merkmale bifider Mandibularkanäle

Materialien und Methoden: Analyse von 422 DVT-Datensätzen auf die oben genannten Parameter

Ergebnisse und Schlussfolgerung: Eine Prävalenz bifider Mandibularkanäle von 29 % wurde ausgewertet. Bei diesen Patienten lagen in 68 % der Fälle unilaterale und in 32 % der Fälle bilaterale doppelte Nervverläufe vor. Bezogen auf die Klassifikation nach Naitoh lagen 29 % mit Typ I (zweiter Kanal nach retromolar), 16 % mit Typ II (zweiter Kanal zu den Apices der Zähne) und 8 % mit Typ III (doppelter Verlauf mit anteriorer Konfluenz) vor.

Bewertung: Auch die dritte Studie hat ein retrospektives Design mit den bekannten Limitationen. Von Vorteil ist die hohe Fallzahl und die nicht beziehungsweise wenig invasive Diagnostik via DVT, der wir viele neue anatomische Erkenntnisse der jüngeren Vergangenheit verdanken. Bei den Vergleichen der DVT-Studien ist selbstverständlich zu beachten, dass die Auflösung der jeweils verwendeten Geräte sicherlich variiert, was unterschiedliche Ergebnisse erklären kann. Auch die subjektive Beurteilung durch den menschlichen Untersucher könnte ein Bias darstellen.


Hadilou M, Gholami L, Ghojazadeh M, Emadi N
Prävalenz und Ausdehnung der vorderen Schleife des N. mentalis in verschiedenen Populationen und DVT-Bildgebungseinstellungen: eine systematische Literaturübersicht und Metaanalyse
Prevalence and extension of the anterior loop of the mental nerve in different populations and CBCT imaging settings: A systematic review and meta-analysis

Imaging Sci Dent. 2022; 52 (2): 141–153

Art der Studie: systematische Literaturübersicht

Ziel der Studie: Analyse der Prävalenz und Extension einer anterioren Schleife des N. mentalis unter Einschluss verschiedener Populationen und DVT-Einstellungen

Materialien und Methoden: Eingeschlossen wurden Studien, bei denen DVT-Datensätze zur Analyse der anterioren Schleife des Canalis mandibulae verwendet wurden.

Ergebnisse und Schlussfolgerung: 63 Studien mit 13.743 Patienten wurden inkludiert. Die Prävalenz einer anterioren Fortsetzung des Canalis mandibulae über das Foramen mentale hinaus von 6,6–93,5 % (berechneter Mittelwert: 40,6 %) konnte herausgestellt werden, wobei die Länge nach mesial 0,25–19 mm (berechneter Mittelwert: 2,4 mm) betrug. Zwischen den verschiedenen geografischen Lokalisationen lagen signifikante Unterschiede vor.

Bewertung: Die Studie basiert auch hier hauptsächlich auf retrospektiven Daten, aber mit einer beeindruckenden Fallzahl. Somit kann geschlussfolgert werden, dass es sich bei der anterioren Schleife des Canalis mandibulae um eine recht häufige Variante handelt und dass auch hier ein entsprechender Abstand zwischen Nervkanal und zahnärztlichem Implantat berücksichtigt werden muss.

Conclusio

Die Implantatinsertion erfordert genaue Kenntnisse der Anatomie und eine ordnungsgemäße Beurteilung der Knochenqualität und -quantität, um bei der Auswahl der geeigneten Größe und richtigen Position des Implantats zu helfen und das Risiko einer Nerv- und Gefäßschädigung zu verringern. So wird in der Literatur angegeben, dass zur Vermeidung von Schäden des Canalis mandibulae eine „Sicherheitszone“ von 2 mm über dem Nerv und in Fällen intraforaminaler Implantate von ≥2 mm mesial des Foramen mentale eingehalten werden sollte.

Die vielleicht bedeutendste Auswirkung des DVTs auf die zahnärztliche Implantologie liegt in der präoperativen Beurteilung und Behandlungsplanung, die eine korrekte Darstellung wichtiger Strukturen wie des Mandibularkanals, seines mentalen Foramens und des Sinus maxillaris im Oberkiefer ermöglicht.

Es ist bekannt, dass sich die Lage anatomischer Strukturen und die Abmessungen des Alveolarkamms bei Zahnverlust ändern können. Allerdings konnte analysiert werden, dass die Position des Canalis mandibulae unabhängig vom Zahnverlust und vom Alter – und in der Literatur auch unabhängig von der geografischen Lokalisation der Patienten – relativ konstant bleibt.

Eine Mandibularkanalvariation, die als bifider Mandibularkanal bekannt ist, ist durch einen Kanal gekennzeichnet, der sich in 2 Zweige aufteilt, von denen jeder seine eigene neurovaskuläre Versorgung haben kann. Es wird vermutet, dass die Abweichung von der normalen Entwicklung während der pränatalen Wachstumsphase auftritt, in der eine fehlende Verschmelzung der 3 Kanäle zu einem einzigen Unterkieferkanal auftritt, was zu einer Bifurkation oder Trifurkation des Kanals führt. Die Prävalenz variiert von einer Population zur anderen, außerdem variiert sie je nachdem, welche diagnostische Bildgebung verwendet wurde.

Die hohe Rate an bifiden Nerv- und Gefäßverläufen von bis zu 29 % (dreifach angelegte Kanäle in bis zu 2 % der Fälle!) zeigt die besondere Bedeutung einer präimplantologisch-radiologischen Diagnostik; die Panoramaschichtaufnahme ist bekannt dafür, die Prävalenz bifider oder gar trifider Mandibularkanäle signifikant zu unterschätzen. Wird eine solche natürliche Aberration nicht suffizient erkannt, können iatrogene Verletzungen des Canalis mandibulae bei chirurgischen Eingriffen die Folgen sein. Auch kann eine erfolgreiche Leitungsanästhesie aufgrund der mehrfachen Nervanlage signifikant erschwert sein. Insbesondere in diesen Fällen kann eine „hohe“ Leitungsanästhesie nach Gow-Gates oder Akinosi-Vazirani empfohlen werden.

Des Weiteren zeigt die hohe Rate an anterioren Schleifen („Loops“) des Mandibularkanals von über 40 % – und somit eines verringerten Abstands zwischen dem neurovaskulären Bündel und dem Alveolarkamm – dass auch die Platzierung interforaminärer Implantate mit Risiken vergesellschaftet sein kann. Die vorgestellten diesbezüglichen Studien betonen auch hier den erhöhten Bedarf einer präoperativen Identifizierung des Mandibularkanals, insbesondere in der dritten und vierten Lebensdekade und bei komplett zahnlosen Patienten.

Zusätzlich zeigt die Literatur ein Vorkommen von akzessorischen Foramina mentale mit einer Rate von über 6 %. Unter Verwendung von Panoramaschichtaufnahmen wurde interessanterweise nicht über eine genaue Identifizierung des Mandibularkanals in der interforaminalen Region berichtet. Die hier berichteten niedrigen Prävalenzraten könnten das Versagen der Panoramaschichtaufnahme bei der Erkennung von anterioren Schleifen des Gefäß-Nerven-Bündels widerspiegeln, was wiederum ihre Zuverlässigkeit für eine präzise Implantatplanung infrage stellt. Eine ungenaue Inspektion der Operationsstelle könnte das Risiko einer iatrogenen Verletzung des vorderen Anteils des Canalis mandibulae erhöhen. Bei fast 37 % der Patienten, die sich einer Implantatinsertion im Unterkiefer-Prämolarenbereich unterzogen, traten für bis zu 2 Wochen spürbare Veränderungen auf; in 10–15 % dieser Fälle blieben die Symptome bestehen.

Abschließend sollten die Wahl des Zahnimplantats und die Notwendigkeit einer Augmentation im Unterkiefer von einer genauen (radiologischen) Berücksichtigung des Verlaufs des Canalis mandibulae und des Foramen mentale abhängig gemacht werden, um eine Verletzung des neurovaskulären Bündels zu vermeiden. Mit der Beurteilung des Abstands zwischen Alveolarkamm und Mandibularkanal betonen die vorgestellten Studien die Notwendigkeit der genauen Identifizierung des Canalis mandibulae.

Prof. Dr. Dr. Peer W. Kämmerer

Leitender Oberarzt und stellv. Klinikdirektor; Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie − Plastische Operationen − der Universitätsmedizin Mainz

peer.kaemmerer@unimedizin-mainz.de

Prof. Dr. Karl M. Lehmann, M.Sc.

Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik und Werkstoffkunde der Universitätsmedizin Mainz

karl.lehmann@unimedizin-mainz.de


(Stand: 28.02.2023)

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