Der atrophe Unterkiefer

DOI: 10.53180/ZZI.2023.0032-0037

Augmentation mit Titangitter in Kombination mit provisorischen Implantaten und Interimszahnersatz

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Schlüsselwörter: CAD/CAM Titanmesh laterale Augmentation provisorische Implantate vertikale Augmentation

Ziel: In der vorliegenden Fallbeschreibung werden präprothetische Behandlungsoptionen zur Implantatversorgung im Unterkieferseitenzahnbereich unter Verwendung eines CAD/CAM-hergestellten Titanmeshs in Kombination mit provisorischen Implantaten und einer zweizeitigen späteren Insertion von definitiven Implantaten präsentiert.

Material und Methode: Bei einer 68-jährigen Patientin wurde eine kombiniert laterale und vertikale Implantation im atrophen Unterkiefer mittels Titanmesh durchgeführt. Im selben Eingriff erfolgte die Insertion von provisorischen Implantaten, die mit einer herausnehmbaren Prothese versorgt wurden. Nach einer Einheilzeit von 6 Monaten fand die Insertion der definitiven Implantate und nach weiteren 4 Monaten die Inkorporation der definitiven Prothese statt. Bei einer Nachsorgezeit von 5 Jahren liegen stabile Verhältnisse vor.

Schlussfolgerung: Mit den oben genannten Materialien und den in diesem Fall gezeigten Techniken lassen sich voraussehbar gute Ergebnisse bei ästhetisch und funktionell befriedigendem Outcome erreichen.

Schlüsselwörter: laterale Augmentation; vertikale Augmentation; CAD/CAM; Titanmesh; provisorische Implantate

Zitierweise: Kämmerer PW, Buttchereit I: Der atrophe Unterkiefer. Z Zahnärztl Implantol 2023; 39: 32–37

DOI.org/10.53180/ZZI.2023.0032-0037

Einleitung

Bei ausgeprägten Alveolarknochendefekten sind Augmentationsverfahren oftmals unumgänglich, um eine langfristige Stabilität der Implantate zu erreichen. Die Literatur beschreibt Überlebensraten von Implantaten in augmentiertem Knochen, ohne eine Überlegenheit einer Technik oder eine spezifische Indikation für jedes Verfahren herauszustellen [1, 6, 10, 11].

Die für Augmentation gewählte Technik hängt vor allem von der Defektgröße des Alveolarknochens ab. So schlussfolgerten Troeltzsch und Koautoren zum Beispiel, dass unter Verwendung von Knochenblöcken ein mittlerer horizontaler Knochenzuwachs von 4,5 ± 1,2 mm und ein mittlerer vertikaler Aufbau von 5,8 ± 2,8 mm erreicht werden kann. Im Gegensatz dazu ist das zu erreichende Ergebnis unter Verwendung partikulärer Materialien deutlich geringer (horizontal 3,7 ± 1,2 mm und vertikal 3,7 ± 1,4 mm) [12]. Der Gewinn an regeneriertem Knochen kann durch die Verwendung von Titanmeshes – die dafür bekannt sind, als mechanisches Gerüst zu fungieren und Stabilität für eine Knochenheilung bei großen dreidimensionalen Defekten zu ermöglichen – erhöht und besser vorhersagbar gemacht werden. Die herkömmlichen Titanmeshes mussten geschnitten, gebogen und getrimmt werden. Ein langwieriger chirurgischer Eingriff und ein von der Expertise des Chirurgen beziehungsweise der Chirurgin abhängiger Sitz des Netzes waren einige der Nachteile dieses Ansatzes.

Um diese Probleme zu überwinden, wurden digital gestaltete und patientenspezifische Titanmeshes eingeführt. Die neuere Literatur konnte zeigen, dass solche, via individualisierten Computer Aided Design/Computer Aided Manufacturing (CAD/CAM) hergestellte Titanmeshes eine sichere und zeitsparende Augmentationstechnik bieten, insbesondere bei vertikalen und kombinierten Defekten [1, 2, 7].

Hintergrund

Die im Folgenden beschriebene Behandlung erfolgte im Rahmen einer klinischen Studie mit dem Titel „Prospektive Evaluation eines Implantatsystems mit adhäsiver CaP-Beschichtung – chirurgische & prothetische Ergebnisse“ (Publikation geplant 02/24). Das verwendete Implantatsystem alphatech (FMZ GmbH, Rostock, Deutschland/Henry Schein Dental, Langen, Deutschland) ist laut Hersteller ein multiindikatives System, das Optionen für die meisten chirurgischen und prothetischen Lösungen anbietet. Die bioaktive Oberfläche BONITex zeichnet sich durch die Kombination einer gestrahlt, geätzten Oberfläche in Verbindung mit einer extrem dünnen und gleichmäßigen bioaktiven CaP-Schicht aus [4, 8].

Hauptziel dieser kontrollierten Studie ist die Beurteilung von Überlebens- und Erfolgsrate der Implantate sowie Überlebens- und Erfolgsrate der Suprakonstruktionen. Durch eine Kooperation zwischen Klinik und niedergelassenen Zahnärzten soll zum einen der Implementierung einer dem zahnärztlichen Alltag entsprechenden Implantologie in die studentische Lehre und zum anderen dem Ansprechen eines breiten Patientenklientels durch praxistaugliche Versorgungskonzepte realisiert werden.

Ausgangssituation

Im Rahmen der Patientenrekrutierung stellte sich eine 68-jährige Patientin nach alio loco erfolgter Extraktion der nicht erhaltungswürdigen Zähne in der Unterkieferfront (Abb. 1) mit dem Wunsch nach einer festsitzenden Versorgung vor. Die Patientin berichtete wortwörtlich von einer „Odyssee“ in Form von unzähligen Vorstellungen bei lokalen MKG-Praxen sowie chirurgisch tätigen Zahnärzten im Vorfeld.


Für die ambulante Praxis stellen kombiniert vertikale und horizontale Knochendefizite sehr anspruchsvolle Defektkonfigurationen dar. Oftmals fehlt der dafür notwendige regionale autologe Knochen bzw. die Patienten wünschen keinen Zusatzeingriff für die Entnahme mit den damit verbundenen Risiken.

Im Rahmen der präoperativen Diagnostik stellte sich ein hoch atropher Unterkiefer mit einem signifikanten Verlust an horizontaler Breite und vertikaler Höhe dar (Abb. 2/3). Der Oberkiefer war mit einer Totalprothese suffizient versorgt.


Vorgehensweise

Die Patientin wurde ausführlich bezüglich der rekonstruktiven Optionen beraten, insbesondere hinsichtlich eines zweizeitigen Vorgehens (Augmentation und spätere Implantation). Sie wollte aber auf keinen Fall während der Gesamtbehandlungszeit auf eine dentale Versorgung im Unterkiefer verzichten. Daher entschieden wir uns nach sorgfältiger Aufklärung für eine im Rahmen der Augmentation durchzuführende Insertion von provisorischen Implantaten. Der erste Eingriff fand in einer ambulanten Intubationsnarkose statt. Klinisch stellte sich der Alveolarkamm erwartungsgemäß als dünn (< 2 mm) und mit einem vertikalen Verlust von 3–4 mm dar (Abb. 4).


Das im Vorab anhand des DVT-Datensatzes geplante Titanmesh (Abb. 5; ReOss, Filderstadt, Deutschland) wurde mit einer Mischung aus enoral entnommenem partikulär-autologem Knochen und einem Knochenersatzmaterial (Verhältnis 20:80 (BioOss, Geistlich, Deutschland)) aufgefüllt und zusammen mit 4 provisorischen Implantaten (TempImplant, Straumann, Basel, Schweiz) inseriert (Abb. 6). Zur Verbesserung der Wundheilung wurden auf das Mesh A-PRF-Membranen appliziert (Abb. 7). Die postoperative Röntgenkontrolle zeigte eine regelrechte Lage des Meshs und eine regelrechte Positionierung der provisorischen Implantate (Abb. 8).


Nach Abschluss der weichgeweblichen Wundheilung erfolgten eine Abdrucknahme und die Umarbeitung der vorhandenen Unterkiefermodellgussprothese, die auf den provisorischen Implantaten weichbleibend stabilisiert wurde (Abb. 9/10). Die Patientin wurde instruiert, mit dieser Prothese keine feste Nahrung zu sich zu nehmen.


Nach einer Einheilzeit von 6 Monaten wurde eine erneute DVT angefertigt (Abb. 11a/b) und die Insertion der definitiven Implantate digital geplant (Abb. 12). Die eigentliche Implantation erfolgte im Verlauf schablonengestützt in Intubationsnarkose (Abb. 13). In diesem Rahmen wurden das Titanmesh und 2 der 4 temporären Implantate entfernt (Abb. 14) und die definitiven Implantate (alphatech, FMZ GmbH, Rostock, Deutschland) mit einer Calziumphosphat-Beschichtung (BONITex, DOT, Rostock, Deutschland) inseriert (Abb.15/16).


Nach einer Einheilzeit von 4 Monaten fand die Freilegung der definitiven und Entfernung der restlichen temporären Implantate (Abb. 17/18) sowie die Versorgung der definitiven Implantate mittels eines Steges statt (Abb. 19: prothetische Versorgung durch Gemeinschaftspraxis „Zahnärzte am Kugelbrunnen“, Rostock). Bei einer Nachsorgezeit von mehr als 5 Jahren stellt sich eine ästhetisch und funktionell befriedigende Situation dar (Abb. 20a/b). Eine Verbessung der periimplantären Weichgewebsverhältnisse via Vestibulumplastik lehnte die Patientin ab.

Schlussfolgerung

Basierend auf den Prinzipien der Guided Bone Regeneration werden individualisierte Titanmeshes vorgeschlagen, um die Probleme der herkömmlichen Titanmeshes (vor allem intraoperative händische Anpassung und spätere Exposition) zu überwinden. Die Literatur offenbart die Vorteile dieser Technologie wie eine verkürzte und erleichterte Operationszeit im Sinne eines modernen digitalen Workflows.

Obwohl Sumida et al. unter Verwendung von patientenspezifischen Titanmeshes (statistisch nicht signifikant) weniger Expositionen zeigen konnten [11], bleibt das Weichgewebemanagement hier eines der größten Herausforderungen. Hartmann und Seiler schlussfolgerten, dass die Dehiszenzrate unter Verwendung von PRF-Membranen verringert werden könnte. Allerdings stellte sich auch in ihrer Studie eine Expositionsrate der Titanmeshes von 25 % dar, die jedoch das Ergebnis der Augmentationsprozedur nicht signifikant beeinflusste [3]. Im Vergleich zu diesen Ergebnissen gaben andere Autoren Expositionsraten von 15 bis hin zu 59 % an [3, 9]. Unter Beachtung der patientenimmanenten Faktoren mit Einfluss auf den Langzeiterfolg der Implantate scheint insbesondere das Vorliegen einer Parodontits eine wichtige Rolle zu spielen [1].

Das Besondere an dem vorgestellten Fall ist neben der verhältnismäßig langen Nachsorgedauer die Tatsache, dass die Patientin über die gesamte Einheilzeit von Augmentat und Implantaten prothetisch versorgt wurde.

Interessenkonflikte: Die Patientin wurde in die klinische Studie „Prospektive Evaluation eines Implantatsystems mit adhäsiver CaP-Beschichtung – chirurgische & prothetische Ergebnisse“ eingeschlossen. Es besteht für beide Autoren kein Interessenkonflikt.

Prof. Dr. Dr. Peer W. Kämmerer

Leitender Oberarzt und stellv. Klinikdirektor; Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie − Plastische Operationen − der Universitätsmedizin Mainz

peer.kaemmerer@unimedizin-mainz.de

Dr. Ingo Buttchereit

Oberarzt und Leiter der zahnärztlich- chirurgischen Ambulanz; Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und plastische Gesichts- chirurgie der Universitätsmedizin Rostock

ingo.buttchereit@med.uni-rostock.de


Literatur

  1. Hartmann A, Hildebrandt H, Younan Z et al.: Long-term results in three-dimensional, complex bone augmentation procedures with customized titanium meshes. Clin Oral Implants Res 2022; 33: 1171–1181
  2. Hartmann A, Peetz M, Al-Nawas B et al.: Patient-specific titanium meshes: Future trend or current technology? Clin Implant Dent Relat Res 2021; 23: 3–4
  3. Hartmann A, Seiler M: , Minimizing risk of customized titanium mesh exposures – a retrospective analysis. BMC Oral Health 2020; 20: 36
  4. Kämmerer TA, Palarie V, Schiegnitz E et al.: A biphasic calcium phosphate coating for potential drug delivery affects early osseointegration of titanium implants. J Oral Pathol Med 2017; 46: 61–66
  5. Kämmerer P, Tunkel J, Gotz W et al.: The allogeneic shell technique for alveolar ridge augmenta- tion: a multicenter case series and experiences of more than 300 cases. Int J Implant Den, 2022; 8: 48
  6. Kloss FR, Kämmerer PW, Kloss-Brandstatter A: Risk factors for complications following staged alveolar ridge augmentation and dental implantation: A retrospective evaluation of 151 cases with allogeneic and 70 cases with autogenous bone blocks. J Clin Med 2022; 12
  7. Lizio G, Pellegrino G, Corinaldesi G et al.: Guided bone regeneration using titanium mesh to augment 3-dimensional alveolar defects prior to implant placement. A pilot study. Clin Oral Implants Res 2022; 33: 607–621
  8. Palarie V, Bicer C, Lehmann KM et al.: Early outcome of an implant system with a resorbable adhesive calcium-phosphate coating--a prospective clinical study in partially dentate patients. Clin Oral Investig 2012; 16: 1039–1048
  9. Sagheb K, Schiegnitz E, Moergel M et al.: Clinical outcome of alveolar ridge augmentation with individualized CAD-CAM-produced titanium mesh. Int J Implant Den, 2017; 3: 36
  10. Shah D, Chauhan C, Shah R: Survival rate of dental implant placed using various maxillary sinus floor elevation techniques: A systematic review and meta-analysis. J Indian Prosthodont Soc 2022; 22: 215–224
  11. Sumida T, Otawa N, Kamata YU et al.: Custom-made titanium devices as membranes for bone augmentation in implant treatment: Clinical application and the comparison with conventional titanium mesh. J Craniomaxillofac Surg 2015; 43: 2183–2188
  12. Troeltzsch M, Troeltzsch M, Kauffmann P et al.: Clinical efficacy of grafting materials in alveolar ridge augmentation: A systematic review. J Craniomaxillofac Surg 2016; 44: 1618–1629

(Stand: 28.02.2023)

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