Einleitung
Die zahnärztliche Implantattherapie hat sich mit einer mittleren Überlebensrate von mehr als 95 % zu einer sehr zuverlässigen Behandlungsoption für die Wiederherstellung der Funktion und Ästhetik fehlender Zähne entwickelt. Allerdings stellt sowohl das frühe und späte Implantatversagen als auch das Vorkommen periimplantärer Infektionen eine Herausforderung sowohl für den Patienten als auch für den Zahnarzt dar. Die Identifizierung systemischer Erkrankungen und systemischer Medikamentenwirkungen, die die Osseointegration von Implantaten beeinflussen können, ist entscheidend, um die Faktoren, die mit dem Erfolg oder Misserfolg von Zahnimplantaten verbunden sind, besser zu verstehen.
Depressionen sind eine weit verbreitete Krankheit, die durch eine gedrückte Stimmung und Freudlosigkeit gekennzeichnet ist und von erheblichen somatischen und kognitiven Veränderungen begleitet wird, die sich auf die Gedanken, Gefühle, das Verhalten und das allgemeine Wohlbefinden des Einzelnen auswirken. Das lebenslange Risiko für Depressionen liegt im weltweiten Vergleich bei etwa 15 %. Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) sind aufgrund ihrer Wirksamkeit und ihres geringen Risikos für unerwünschte Nebenwirkungen derzeit die für die Behandlung von Depressionen empfohlenen Erstlinien-Medikamente. Der Wirkungsmechanismus von SSRI umfasst die Hemmung der Wiederaufnahme von Serotonin, während der Wirkungsmechanismus von SNRI die Hemmung der Wiederaufnahme von Serotonin und Noradrenalin umfasst, wodurch die Konzentration dieser Neurotransmitter innerhalb der Synapse erhöht wird. Wenn Behandlungen mit SSRI oder SNRI fehlschlagen, wird die Auswahl einer Antidepressivumklasse der zweiten Wahl mit einer anderen Wirkungsweise empfohlen (trizyklische Antidepressiva (TCA), atypische Antidepressiva (AA) und Monoaminoxidasehemmer (MAOI)).
Es konnte gezeigt werden, dass sowohl Serotonin als auch Noradrenalin den Knochenstoffwechsel und -umsatz beeinflussen, da die entsprechenden funktionellen Transporter und Rezeptoren in peripheren Knochenzellen vorhanden sind. Serotonin kann die Proliferation von Osteoblasten induzieren, während SSRI die Knochenzellfunktion über Apoptose hemmen und die Knochenmineralisierung behindern können. Darüber hinaus kann eine Beeinträchtigung der Noradrenalinaktivität die Knochenbildung verringern und die Knochenresorption erhöhen. Aktuell wird diskutiert, ob die Verabreichung und Wirkung von Antidepressiva das Risiko eines Versagens zahnärztlicher Implantate erhöhen kann. Daher ist es Thema der vorliegenden „Studienzusammenfassungen“, die derzeitige Literatur zu evaluieren, inwieweit die verschiedenen pharmakologischen Klassen von Antidepressiva den Erfolg von Zahnimplantaten beeinflussen.
Literaturübersicht
Howie NR, Herberg S, Durham E, Grey Z, Bennfors G, Elsalanty M, LaRue AC, Hill WD, Cray JJ
Der selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Sertralin hemmt die Knochenheilung in einem Schädeldefektmodell
Selective serotonin re-uptake inhibitor sertraline inhibits bone healing in a calvarial defect model
Int J Oral Scienc, 2018, 10: 25
Studientyp: Tierversuch
Ziel der Experimente: Histologische Messung des Einflusses eines SSRIs auf die Knochenheilung im Mausmodell
Materialien und Methoden: Bei 26 Mäusen unter kontinuierlicher SSRI-Medikation im Vergleich zu 30 unbehandelnden Tieren wurde ein knöcherner Defekt am Schädelknochen angelegt und unterschiedlich versorgt. Nach einer Heilungsdauer von 4 Wochen erfolgte die 2D- und 3D-radiologische sowie die histologische Evaluation der Knochenneuheilung.
Ergebnisse: Die systemische Wirkung des SSRIs führte bei den behandelten Mäusen zu einer reduzierten Knochenheilung mit einer verminderten trabekulären Dichte und Anzahl sowie einer gesteigerten Kollagenproduktion.
Beurteilung: Es steht außer Frage, dass die Ergebnisse aus Tierversuchen nur bedingt auf die menschliche Physiologie übertragbar sind. Trotzdem zeigt dieses aufwändige Experiment auf beeindruckende Art und Weise, dass der gewählte SSRI die Knochenregeneration negativ und die Kollagenproduktion – im Sinne einer narbigen Einheilung – positiv beeinflusst.
Hakam AE, Vila G, Duarte PM, Mbadu MP, Al Angary DS, Aukhil I, Neiva R, da Silva HDP, Chang J
Effekte unterschiedlicher Klassen von Antidepressiva auf das Versagen zahnärztlicher Implantate: eine retrospektive klinische Studie
Effects of different antidepressant classes on dental implant failure: a retrospective clinical study
J Periodontol 2020, epub ahead of print
Studientyp: retrospektive klinische Fall-Kontroll-Studie
Ziel der Studie: Analyse des Einflusses von SSRIs, SNRIs, TCAs, AAs und MAOIs auf das Implantatüberleben
Materialien und Methoden: Aus den Krankenakten von 771 Patienten mit 1820 Implantaten, die in einem Zeitraum von 6 Jahren an einem Zentrum behandelt wurden, erfolgte die Analyse von Implantatversagen, Einnahme von verschiedenen Antidepressiva, Alter, Geschlecht, Nikotinabusus, systemischer Erkrankungen und Implantatlokalisation.
Ergebnisse: Eine signifikante Häufung von Implantatverlusten konnte für Patienten mit systemischen Erkrankungen (Odds Ratio: 2,6), Rauchern (Odds Ratio: 5,2) und Patienten mit Antidepressiva (Odds Ratio: 4,3) sowie im posterioren Oberkiefer (Odds ratio: 2,9) berechnet werden. Insbesondere die Patienten unter SNRIs zeigten ein im Vergleich zu den anderen Medikamentenklassen erhöhtes Risiko.
Schlussfolgerung: Aufgrund der monozentrischen Ausrichtung mit definierten chirurgischen Kautelen und postoperativen Nachsorgeintervallen ist von einem in diesen Punkten recht homogenen Patientenkollektiv auszugehen, wenngleich die Ergebnisse nicht unbedingt auf andere Zentren übertragbar sind. Zu den gewählten Parametern wären sicherlich noch weitere (z.B. orale Hygiene, Augmentationen, Art der Implantate inklusive Implantatlänge und Durchmesser, Modalität der prothetischen Versorgung) interessant gewesen. Die Daten geben jedoch wertvolle Informationen darüber, dass bei Patienten unter Antidepressiva ein möglicherweise 4,3-fach erhöhtes Risikos eines Implantatverlusts im Vergleich zu Patienten ohne diese Medikation besteht.
Carr AB, Gonzalez RLV, Jia L, Lohse CM
Beziehung zwischen selektiven Serotonin-Wiederaufnahmhemmern und dem Risiko des Implantatverlusts
Relationship between selective serotonin reuptake inhibitors and risk of dental implant failure
J Prosthodontics 2019; 28: 252–257
Studientyp: retrospektive klinische Fall-Kontroll-Studie
Ziel der Studie: Analyse des Einflusses von SSRIs auf das Implantatüberleben
Materialien und Methoden: Aus den Krankenakten von 5456 Patienten, die in einem Zeitraum von 20 Jahren an einem Zentrum behandelt wurden, erfolgte die Analyse von Implantatversagen, Einnahme von verschiedenen SSRIs, Alter, Geschlecht und Jahr der Implantation.
Ergebnisse: Patienten, die anamnestisch das SSRI Sertralin genommen hatten, zeigten ein um 60 % erhöhtes Risiko eines Implantatverlusts, wobei dies nicht bei Patienten unter aktueller Sertralin-Medikation und Patienten, die Sertralin nach der Implantation genommen hatten, zutraf. Patienten, die 2 oder mehr Antidrepressiva nahmen, zeigten gegenüber den Patienten ohne Andidepressiva eine signifikant erhöhtes Risiko für Implantatverluste.
Schlussfolgerung: Bei dieser beeindruckenden Fallzahl und langer Nachbeobachtungszeit wird leider – noch mehr wie in der vorherigen besprochenen Studie – auf das Einbeziehen weiterer relevanter Faktoren für den Implantatverlust verzichtet. Die Ergebnisse könnten allerdings auf eine signifikante Rolle des langfristigen Einsatzes von Sertralin und multipler Antidepressiva im Rahmen der dynamischen Knochenheilung in der kritischen Phase der Entwicklung und Reifung der Grenzflächen zwischen Knochen und Implantat hinweisen.
Silva CCG, dos Santos MS, Monteiro JLGC, de Aguiar Soares Carneiro SC, do Egito Vasconcelos BC
Existiert eine Assoziation zwischen der Einnahme von Antidepressiva und Komplikationen zahnärztlicher Implantate? Eine systematische Literaturübersicht und Metaanalyse
Is there an association between the use of antidepressants and complications involving dental implants? A systematic review and meta-analysis
Int J Oral Maxillofac Surg 2020; Epub ahead of print
Studientyp: systematische Literaturübersicht
Ziel der Studie: Analyse der Assoziation zwischen Antidepressiva und Komplikationen zahnärztlicher Implantate
Materialien und Methoden: Aus 5 klinischen Studien mit insgesamt 2056 Patienten und 5302 Implantaten wurde das relative Risiko berechnet, unter Medikation mit Antidepressiva einen Implantatverlust zu erleiden.
Ergebnisse: Im Vergleich zu Patienten ohne antidepressive Medikation war das relative Risiko eines Implantatverlusts bei Patienten mit Antidepressiva 3,73-fach erhöht.
Schlussfolgerung: Es war sicherlich schwierig, eine solche Metaanalyse durchzuführen, da die eingeschlossenen Vergleichsstudien methodisch stark variierten und die verschiedenen Antidepressiva nicht standardisiert wurden. Wie aus den im Vorab besprochenen Studien erkennbar, scheint die Art des Antidepressivums ja eine besondere Rolle zu spielen, die hier nicht ausgewertet werden konnte. Zusammengefasst lassen sich auch hier lediglich Hinweise auf die negative Wirkung von Antidepressiva auf das Überleben zahnärztlicher Implantate gewinnen.
Synopsis
Die Definition des Risikoprofils eines bestimmten Patienten beinhaltet die klinische Bewertung der Wahrscheinlichkeit, dass wünschenswerte oder auch unerwünschte Ergebnisse erzielt werden. Dieses Risikoprofil spielt eine immer wichtigere Rolle bei der Entscheidungsfindung für die orale Rekonstruktion. Wenn die prothetische Versorgung nach Zahnverlust eine implantatchirurgische Phase umfasst, ist es wichtig, realistische Patientenerwartungen unter Berücksichtigung ihrer spezifischen Gesundheits- und Medikationsprofile zu erzeugen.
Bei präklinischer und klinischer Evidenz liegt nahe, dass die Einnahme von Antidepressiva den Knochenstoffwechsel und die Osseointegration des Implantats beeinträchtigen kann. Im Allgemeinen zeigten die Ergebnisse, dass Patienten unter Antidepressiva ein signifikant höheres Risiko für Implantatversagen aufwiesen als Patienten ohne diese Medikation. Laut einzelnen Studien beziffert sich dieses Risiko als ähnlich hoch wie bei Rauchern. Eine weitere Erhöhung des Risikos könnte bei Patienten unter SNRIs, aber auch unter spezifischen SSRIs vorliegen. Diese nachteilige Auswirkung von Antidepressiva auf das Überleben von Zahnimplantaten kann auf ihre negative Auswirkung auf die Osseointegration, auf den Verlust der bereits abgeschlossenen Osseointegration bei Implantaten unter Kaufunktion oder auf beides zurückgeführt werden.
Zusammengenommen weisen diese Ergebnisse darauf hin, dass weitere Untersuchungen erforderlich sind, um besser zu verstehen, wie Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahme hemmende Arzneimittel den Knochenstoffwechsel schädigen und dadurch die Osseointegration und den Erfolg von Zahnimplantaten beeinflussen. Außer retrospektiven Studien mit multiplen offenen Fragen existieren zwar Hinweise, aber keine Beweise, um den Zusammenhang zwischen dem Gebrauch von Antidepressiva und Komplikationen bei Zahnimplantaten zu belegen. Weitere gut durchgeführte prospektive Studien mit einer ausreichenden Stichprobengröße sowie einer Standardisierung der Daten sind erforderlich, um ein besseres Verständnis der Auswirkungen von Antidepressiva auf das Überleben von Zahnimplantaten zu ermöglichen.